»You want to see the mummies?« Ohne unsere Antwort abzuwarten, wendet sich Peter, der Hüter der Krypta in der St. Michan's Church, auch schon wieder von uns ab. Mit angelegtem Arm aber gibt er uns einen Wink, dass wir ihm folgen sollen. Als er die Kirche verlässt, zieht er das eine Bein leicht hinterher. Kurz nach ihm verlassen wir das Kirchenschiff der St. Michan’s Church und treten in die morgendliche Sonne.
Um die Ecke herum ist es schattiger, kühler. Auf dieser Seite der Kirche befinden sich mehrere Klapptüren. Vor der hintersten sollen wir kurz warten. Er muss erst nach dem Rechten schauen und – vor allem – das Licht in der Gruft anschalten. Mehr als ein dämmriger Schein ist es allerdings nicht. Über ein Treppe gelangen wir in einen Gang, hinunter, zum Gruseln in die Katakomben.
»Ihr wollt sicher die Mumien sehen?« vergewissert sich Peter. Erneut wartet er keine Antwort ab, sondern beginnt zu erklären. »Für eine natürliche Mumifizierung braucht es zwei Dinge.« Er blickt uns finster an. »Eine trockene, gleichmäßig kühle Luft und Gas.« Dieses entweicht dem Boden unter der Kirche in Form von Methan. Beides zusammen verhindert das Verfaulen der beigesetzten Körper. Die meisten Zellen beiderseits des Gangs sind jedoch finster, die Särge geschlossen.
Gräber, Taufbecken und Kirchenschiff der St. Michan's Church
Der Grund ist, dass die Grabkammern immer noch aktiv sind und die Särge – auch wenn sich darin Mumien befinden – nicht von Menschenhand geöffnet werden dürfen. Die Schlüssel zu den Kammern befinden sich im Besitz Dubliner Familien. Und wenn sie wollen, dann könnten sie auch heute noch ihre Verstorbenen unter der St. Michan’s Church bestatten. Dies sei jedoch seit gut 40 Jahren nicht mehr geschehen, berichtet Peter.
Eine Ausnahme bildet die hinterste Kammer auf der linken Seite. In ihr sind die Särge offen einzusehen. Wir sollen genauer hinschauen. »Seht ihr, dem Mann im mittleren Sarg fehlt eine Hand.« Für gewöhnlich ist dies ein Zeichen dafür, dass es sich um einen Verbrecher handelt. »Warum aber wurde er dann unter der Kirche, auf geheiligten Boden bestattet?« Peter schaut uns eindringlich in die Augen: »Niemand weiß es.« Wohl aber bekommen wir ein Gefühl davon, wie Bram Stoker hier die Inspiration zu seinem Dracula-Roman fand.
Die Erklärung, warum dem Mann außerdem die Füße abgehackt wurden, ist dafür umso simpler. Er hätte sonst nicht in den kleinen Sarg gepasst. Ebenfalls in der Kammer liegen eine Nonne und ein vor rund 800 Jahren ums Leben gekommener Kreuzfahrer. Zu erkennen ist dieser an den Oberschenkeln, die über Kreuz zusammengenagelt sind. Dass diese Mumien besichtigt werden können, haben wir dem Zerfall der alten Särge zu verdanken. Wenn das Holz bricht, ist auch das Verbot, die Särge zu öffnen, gebrochen.
Trotz des Alters sind die Mumien so gut erhalten, dass sich sogar die Gelenke der Finger noch bewegen lassen. So erklärt uns Peter, dass wir dem Kreuzfahrer die Hand geben dürfen. Dadurch sollen wir angeblich den Jackpot gewinnen. Wir lehnen dankend ab, nicht aus Angst vor der Berührung, sondern um der Mumie nicht zu schaden. »Ihr wollt nicht den Jackpot gewinnen? Letzte Chance!« Er wendet sich abrupt ab, zieht ein Bein leicht nach und gibt uns den nächsten Wink.
In der benachbarten Gruft treffen wir auf bekannte Namen der irischen Unabhängigkeitsbewegung des späten 18. Jahrhunderts. Vor den Särgen lesen wir die Urkunde von der Hinrichtung der Sheares Brothers Henry und John. Nachdem die Verschwörung am 12. Juli 1798 aufflog, wurden die Brüder am 14. Juli gehängt und – weil das alleine nicht ausreichte – verbrannt und gevierteilt. Daneben ist die Totenmaske von Wolfe Tone, einem der Anführer, ausgestellt.
Totenmaske von Wolfe Tone und Gruft der St. Michan's Church
Zusammen mit einem 3000 Mann starken Heer aus Frankreich hatte er am 12. Oktober versucht, im County Donegal zu landen. Weil auch sein Unterfangen verraten worden war, wurde er jedoch von einem deutlich größeren Geschwader abgefangen und in einer drei Stunden dauernden Schlacht geschlagen, ohne auch nur die Küste Irlands erreicht zu haben. Am 19. November 1798 wurde Wolfe Tone hingerichtet. »Und das ist, warum wir Iren heute englisch sprechen und nicht französisch«, endet Peter seinen spannenden und kurzweiligen Vortrag.